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                                        Ignacio 1

Wir wollen Euch die Geschichte eines armen Menschen erzählen, der an Leib und Seele zerbrechen musste, weil die Last, die Gott ihm auferlegt hatte, zu schwer wog und weil die Menschen, die seinen Weg kreuzen sollten, ihm die Liebe verweigerten.

 Ignacio Zarragossa war, wie der Name unschwer erkennen lässt, Spanier. Entgegen aller klischeehaften Vorstellungen war sein Haupt - wie die Köpfe seiner Vorfahren väterlicherseits - mit hellblondem Haar bedeckt: Ergebnis möglicher Völkerwanderungen, umherziehender Krieger oder sündigen Sklavenlebens in längstvergangenen Zeiten.

Die Wahrscheinlichkeit spricht in diesem Fall für einen keltischen Ursprung, denn Ignacio wurde in einer kleinen Hafenstadt Asturiens im Norden Spaniens geboren, und dieses Asturien war der einzige Flecken Spaniens, der sich während der langen Zeit der arabischen Herrschaft über die spanische Halbinsel jungfräulich iberisch gehalten hat.

Insofern sehen wir in unserem Helden letztlich den Ur-Spanier vor uns.  Wind und Wetter des eher rauhen spanischen Nordens, in dem die Sonne jedoch zugleich hohe Temperaturen hervorzubringen vermag, hatten dem Gesicht Ignacios einen gesunden Braunton verliehen. In diesem Antlitz strahlten wasserhell seine blauen Augen, in denen Freude und Leid fluteten, wie die Wellen des unsteten Atlantiks, die in beständigem Wechsel an die asturische Küste spülten.

So hatte Gott ihn vom Scheitel bis zur Schulter nach seinem Ebenbild erschaffen. Für den Rest seines Körpers jedoch musste eine andere Macht zuständig gewesen sein.

Von Geburt an waren seine beiden Schultern bis hinunter zum letzten Rückenwirbel mit braunrot wuchernden Hämangiomen bedeckt; millimeterhoch erhaben, zerfurchten und verkrusteten sie seinen Rücken wie erkaltete Magma die Vulkanlandschaft von Lanzerote.

Doch sei dies nicht genug:

Wie es das Schicksal für ihn vorsah, zog er im Alter von drei Jahren einen Topf siedend heißen Wassers vom Herd, das ihm die Haut von der Brust bis hinunter zum Bauchnabel zerkochte.Die übermäßige Heilung wucherte blaurote Hautwülste auf ihn, gegen die das Hämangiom auf seinem Rücken eine noch erträgliche Mißbildung darstellte. Kurz gesagt: Vom Hals bis zur Hüfte glich unser Held einem schrecklichen Alien, der kaum noch etwas mit einem menschlichen Wesen gemein hatte.

 Nahezu unfassbar für den Leser - wir müssen uns jedoch getreulich der Wahrheit nähern - holte die Fügung zu einem letzten Schlag gegen Ignacio aus.

 An seinem elften Geburtstag spielte er mit einigen seiner jungen Geburtstagsgäste am Strand in einer der vielen Buchten, welche die Küste Asturiens so überaus reizvoll zerklüften. Der Himmel war mit tief -hängenden grauen Wolken bedeckt, das Meer hatte die scharf- kantigen Felsen, die es bei Flut verborgen hielt, zum Spielen für die Kinder freigegeben.

 Igancio, der seinen Oberkörper wie immer unter einem bunten Hemd verbarg, hatte mühsam die höchste Spitze eines dieser Felsen erklommen - unwissentliche Versuche, den körperlichen Makel durch übermäßige Leistungen zu kompensieren. Unmerklich aufkommender Wind hatte die bis dahin gemäßigte Dünung der See anschwellen lassen, die Brecher liefen mit hohen Schaumkronen auf die Küste zu und umtosten die im Wasser liegenden Felsen - und auf einem dieser Felsen stand Ignacio, laut schreiend und gestikulierend, die Arme in die Höhe reißend wie ein Held.

Seht her, hier stehe ich, im Kampf mit euch, den feindlichen Piraten, und trotze den Gefahren,die rings umher auf mich lauern.

Die Welle baute sich weit hinter Ignacios Rücken auf und rollte - immer mächtiger werdend - auf dieFelsen zu. Der Wind zerriss ihren Kopf, und weiße Gischt stieb vor ihr her, als Vorwarnung an alles, was sich ihr in den Weg stellen könnte. Sie spülte über den schroffen Felsen hinweg, auf dem Ignacio stand, als sei er ein glatter Kieselstein.

Der Junge wurde von der Wucht des Wasser im Rücken erfasst, schlug vornüber und geriet mit dem linken Fuß in eine tiefe Furche des rauhen Gesteins. Die heftige See wirbelte seinen kleinen Körper wieder und wieder um das feststeckende Gelenk, zersplitterte die feinsten Knöchelchen bis hinauf ins Schienbein, sog den Knaben in sich hinein, um ihn sogleich wieder auf den zerklüfteten Fels zu speien Ignacio saß noch immer fest, als das zurücklaufende Wasser seinen Körper wie ein verankertes Boot anhob und wieder auf den Felsen hiefte. Das Meer wurde plötzlich ruhiger, als wäre es ob des schrecklichen Geschehens zur Besinnung gekommen.

Die Kinder am Strand liefen aufgeregt hin und her, riefen zu ihm hinüber, erkannten die Gefahr und holten Hilfe....

Nach mehreren Operationen war Ignacios Bein soweit wieder hergestellt, daß es - durch  eine Metallschiene gestützt - mehr schlecht als recht zur Fortbewegung genutzt werden konnte. Das Bein war verkürzt, und Ignacio hatte einen weiteren Makel, der ihn von seinen Spielkameraden in misslicher Weise unterschied.

 So humpelte Ignacio - leidend an Körper und Seele - durch seine Kindheit, wurde gehänselt, gestoßen, verhöhnt und verlacht und versuchte, sich seinen Platz in dieser grausamen Kinderwelt zu erobern. Nur bei den Piratenspielen war er ein stets willkommener Gast als "der mit dem Holzbein", akzeptiert in seiner Rolle als "ein im Kampf Verstümmelter", der sich todesmutig den feindlichen Soldaten beim Entern der Schiffe entgegengeworfen und dabei sein Bein verloren hatte.

Dies waren die Höhepunkte in seinem kläglichen Dasein, denn bei allen anderen Spielen konnte er seinen Platz nicht finden, konnte nicht mithalten bei Wettkämpfen, die Geschicklichkeit und körperlicher Gewandtheit erforderten.

 Die Zeit der Jungenspiele nahm ein Ende. Ignacio wurde älter, und in seine noch jugendliche Stirn hatte sich eine steile Falte gegraben, unter der wasserblaue Augen mißtrauisch und jedwede Gemeinheit erwartend die ringsum heile Welt zu begreifen versuchten.

Eine gezielte Ernährung und ein dauerhaftes Trainig an Hanteln, Bullworkern und anderen Muskel fördernden Geräten hatten Brustkorb, Rücken und Arme ballonähnlich aufgebläht; sein schönes Antlitz verlor sich zwischen gewaltigen muskulösen Schultern, die den Abschluß seines voluminösen kraftstotzenden Oberkörpers bildeten, auf dem sich die schrecklichen Missbildungen ausbreiteten wie ver krustete Magma nach einem Vulkanausbruch.

 Zerrissen und zerklüftet wie sein Körper war auch seine Seelenlandschaft. Der ständige Kampf, im Leben gleichwertig dazustehen, in gewisser Weise seinen Kameraden sogar überlegen zu sein, hatte ihn in seinem tiefsten Inneren zermürbt.

 Erst neulich hatte er, nackt vor dem großen elterlichen Schlafzimmerspiegel stehend, den großen Parfumzerstäuber seiner Mutter ergriffen, ihn mit verzweifelter Inbrunst in sein widerliches Gegenüber geschleudert. Heulend, wie ein vom Rudel vertriebender Wolf, zertrat er die spiegelnden Scherben, um seinen darin verborgenen Körper nun endgültig zu vernichten.

Über sein ehemals freundliches, gleichmäßig schönes Jungengesicht hatte sich der Schatten der Erkenntnis gelegt: Er war eine aussätzige, mit Hohn überhäufte Kreatur, die jeglichem Gespött gnadenlos ausgesetzt war.

 Abends, wenn die anderen Jungen in die Disco gingen und um die ortsansässigen Schönheiten buhlten, saß Ignacio auf einer Klippe in seiner Lieblingsbucht; er schaute hinunter auf die anrollenden Wellen, welche die Strahlen der tief stehenden Sonne in gelbrote bizarre Muster verwandelten und träumte von den makellosen Helden, die in den amerikanischen Fernsehserien mit makellosen Frauen ins Bett gingen, nach dem sie zuvor weniger makellose Bösewichte ins Jensseits befördert hatten.

Wasser und Licht vermischten sich zu bunten Bildern, gut und böse war nicht mehr voneinander lösbar; und Ignacio stand eines Tages auf um dem Leben seinen neuen Sinn zu geben.

Im Laufe langer Fernsehabende war er zu der Einsicht gelangt, dass Hässliches auch gleichzeitig böse sein mußte, und er beschloss, seine milde Güte in Gemeinheit, Boshaftigkeit und Rohheit zu verwandeln.

copyright by Jürgen Spalink

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