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                                 Ignacio 2

Jahre waren vergangen. Die rauhen Wellen des Atlantiks umspielten im ewigen Rhythmus der Gezeiten die rauhen Felsen der asturischen Buchten, trugen Seetang, Muscheln und feinen Sand aus den Tiefen des Ozeans an den Strand und rissen an stürmischen Tagen das, was sie hergegeben hatten, wieder mit sich fort in die finsteren Gräben, die sich in Jahrmillionen zwischen den Kontinenten gebildet hatten.

Ignacios Lehrjahre als Fischerjunge lagen weit zurück. In wildem Eifer hatte er jeden entbehrlichen Centimo zu Seite gelegt und war nun stolzer Eigentümer eines ansehnlichen Kutters. Niemand war zunächst bereit, bei ihm anzuheuern, hatte er doch - roh und unberechenbar geworden - vor keiner gewalttätigen Auseinandersetzung zurückgeschreckt, seine Kraft in ständig provozierten Händeln an zu vielen ausgelassen.

Schließlich fanden sich zwei Männer aus einem nahegelegenen Fischerdorf, welchen die Armut und der Mangel an Arbeit keine andere Wahl ließen, als bei Ignacio anzuheuern. Einen Schiffsjungen fand er in einem blässlichen Knaben namens Jose Maria, den ihm ein entfernter Verwandter aufgeschwatzt hatte mit dem Hinweis, in diesem einen zwar schwächlichen aber ansonsten durchaus geschickten Jungen zu finden, dem lästige Arbeiten wie das Netzeflicken, das Schiff sauber zu halten und den Kahn mit wasserfesten Farben zu schützen leicht von der Hand gingen.

Ignacio herrschte auf seinem Kutter wie ein Barbar. Die Männer und der Junge waren seinen unberechenbaren Wutausbrüchen hilflos ausgeliefert. Selbst bei spätwinterlichen Stürmen, wenn andere Schiffe längst den sicheren Schutz des Hafens gesucht hatten, holte er sie aus den Hafenkneipen, trieb sie an Bord und kämpfte sich mit seiner Mannschaft durch meterhohe Brecher in die offene See hinaus.

Wenn der Schiffsjunge, grüngelb im Gesicht, über der Reling hing, nicht mehr leben und sterben wollte, riss Ignacio ihn an Deck zurück, weißglühend vor Zorn, schrie und brüllte gegen die Gewalt des Sturmes seine Befehle in das elendige Antlitz des Knaben, stieß die verängstigten Männer an die Netze, hetzte das Schiff immer weiter hinein in den röhrenden Orkan, bis das stampfende Boot in der wütenden Gischt aus flirrendem Eiswasser und beißenden Salzkristallen auseinanderzubrechen drohte.

Fünf Jahre später beherrschte Ignacio fast die gesamte Flotte der kleinen Hafenstadt. Durch seinen unbändigen Willen und seine Machtbesessenheit war es ihm gelungen, auf den täglich stattfindenden Fischmärkten zu jeder Zeit alle Sorten von Meeresgetier anbieten zu können; wenn andere Fischer an stürmischen Tagen den sicheren Schutz des Hafens suchten, gab es für Ignacio keine Halten mehr. Er trieb seine kleine, mittlerweile zu Höchstleistungen fähige Crew auf den Kutter, brachte das Schiff mit seemännischer Bravour immer wieder durch gewaltige Wellenberge in die verschiedensten Fanggebiete und konnte auf dem Markt immer dann anbieten, wenn andere Kapitäne wegen schlechter Wetterbedingungen nicht ausgelaufen waren und die deshalb mit keinem Frischfisch auf den Auktionen zugegen sein konnten.

Dies trieb die Preise für Ignacios Fänge in die Höhe, und schon bald konnte er von einem alten Schiffer seinen zweiten Kutter erwerben, dem im Laufe der nachsten Jahre über die Hälfte der gesamten Hafenflotte folgte. Die ehemaligen Schiffer mussten nun auf Ignacios Booten als Vormänner schuften; Ignacio kaufte Kutter um Kutter, fing den Fisch mittlerweile tonnenweise aus der rauhen Biscaya, diktierte Fangquoten und Preise und dehnte seine Macht bald auch auf andere Hafenstädte des asturischen Nordens aus.

Schon längst hatte er keine Schiffsplanke mehr unter seinen Füßen gespürt, beherrschte sein Reich mit harter Hand vom Schreibtisch aus, kaufte, verkaufte, diktierte Preise und Heuer, stellte Männer ein und entließ sie, stritt mit den Bürokraten und gewann Zug um Zug an Macht und Einfluß im alten Königreich Asturien.

Von den Männern der ersten Stunde war ihm niemand geblieben; nur seinen damaligen Schiffsjungen Jose Maria, dem einzigen Menschen, dem er einen Hauch von Zuneigung entgegen bringen konnte oder besser gesagt, gegen den er die geringste Abneigung verspürte, nahm er in sein erobertes Reich auf, nicht zuletzt auch aus Eigennutz, da er nicht überall gleichzeitig zugegen sein konnte und aus rein organisatorischen Gründen einen ergebenen Diener für die verschiedensten Zwecke benötigte.

Er hatte versucht, Jose Maria zu absoluter Härte zu erziehen, aber dessen Wesen war von der Natur her eher mild, und seine Eltern hatten ihn gelehrt, seinen Mitmenschen mit Güte gegenüber zu treten. So musste Jose Maria eine Rolle spielen, die seinem eigentlichen Wesen in keiner Weise entsprach.

 Ignacio hatte seinen ersten Kutter mit armdicken Stahlseilen an die Decke der riesigen Eingangshalle seines Machtzentrums gehängt, so dass Jose Maria tagtäglich die Stätte seines fürchterlichen frühen Leidensweges vor Augen hatte, ja diese sogar viele Male am Tag überschreiten musste, denn Ignacio hatte das Schiff so tief über dem kalten Marmorboden aufgehängt, dass jeder Besucher sein Reich nur über die schwankenden Decksplanken betreten konnte.

So blieb das Schiff durch das ständige Kommen und Gehen von Untergebenen, Geschäftspartnern und Politikern ständig in Bewegung, schwankte, krängte und rotierte wie einstmals auf seinen stürmischen Fangfahrten auf hoher See  - eine bleibende Erinnerung an den Beginn des erbarmungslosen Kampfes Ignacios gegen sich und alles, was sich ihm je in den Weg gestellt hatte an Gefahren und Wider- wärtigkeiten.

Geschäftlich ging es mit Ignacio immer weiter bergauf; er hockte hinter seinem Schreibtisch wie eine Spinne in ihrem Netz und lauerte auf seine Besucher, als seien es kleine Fliegen, die es einzufangen galt, und die nicht einmal ahnten, dass sie, schon wenn sie die Burg des Fischerkönigs betraten, an dem klebrigen

Schleim der ausgesprühten Fäden hingen. Er hatte im Laufe der Jahre bemerkt, dass ein gewisser Charme seinen Geschäften durchaus zuträglich war und diesen bei Bedarf entgegen seiner unerbittlichen Härte im pekuniären Bereich eingesetzt, was dazu beitrug, dass ihm in der Damenwelt ein durchaus wohlwollender Ruf zueigen geworden war.

Igancio, der von Jugend auf dem weiblichen Geschlecht wegen seiner Missbildungen scheu gegenüber stand, erfuhrnach und nach, dass der weibliche Seele etwas innewohnte, was er bislang im Umgang mit Männern nie kennengelernt hatte: die Kunst zu lieben, ohne sich an "äußeren Dingen festzuhalten, die reine seelische Liebe, die nicht nach körperlichen Attributen schaute, sondern in das tiefste Innere des Menschen Einblick nahm  - und dort war Igancio noch immer das spielende, unschuldige Kind, das einstmals auf der Klippe heroisch den anstürmenden Wellen zu trotzen versuchte, missgestaltet zwar, aber dennoch reich an Liebe, an Güte, an Gleichmut und innerer Schönheit.

Ihm selbst wäre dieser Einblick in sein Innerstes jedoch versagt, geblieben, wenn nicht sein Zögling Jose Maria eines Tages den Mut gefasst hätte, ihm seine Schwester vorzustellen mit der Bitte, ihr eine Anstellung als Hausmädchen in seinem Haus zu gewähren. Ignacio lebte schon seit seinem Fortgehen aus dem

Elternhaus allein, und die einzige weibliche Hilfe, der er Eingang in sein schlossähnliches Refugium gewährte, war eine alte Bekannte seiner Mutter, die ihm das Haus sauber hielt und bei Bedarf für ihn kochte. Ansonsten beschäftige Ignacio nur männliche Hilfskräfte, die sich handwerklich im Haus nützlich machten und den das Haus umgebenden Park pflegten.

Jose Maria redete mit Engelszungen auf Ignacio ein und machte ihm die Vorteile schmackhaft, die eine ständige Haushaltshilfe mit sich bringen würde. Ignacio schreckte der Gedanke, von Stund an ständig von einem weiblichen Wesen umgeben zu sein; er sah als kluger Geschäftsmann jedoch die Vorteile, die ihm solch eine Hilfe, zudem zu einem nur geringen Salär gehalten, mit sich bringen würde. So gab er dem Anbieten Jose Marias nach, und schon am nächsten Tag stellte sich das Mädchen in Ignacios privatem Büro vor.

Er war nicht überrascht von ihrer Ähnlichkeit mit Jose Maria, war doch ein unbewusster Grund seines Nachgebens die Überlegung gewesen, mit der Einstellung der Schwester dessen anderes Ich auch in seiner privaten Umgebung um sich zu haben und damit die einzige Person, der er ein Mindestmaß an Vertrauen im geschäftlichen Bereich entgegenbringen konnte, auch an seinen alltäglichen privaten Problemen beteiligen zu können. Letztlich sah er also in Jose Marias Schwester nur das Abbild seines ihm immer treu ergebenen Dieners vor sich.

 Diese Vorstellung sollte sich jedoch bald ins Gegenteil verkehren. Jose Marias Schwester Isidora erwies als völlig gegensätzlich zum unterwürfigen Wesen ihres Bruders. Schon nach wenigen Wochen beherrschte sie das Anwesen Ignacios mit starker Hand, wies allen männlichen Angestellten die Arbeit zu, schaute in Haus und Park nach dem rechten, monierte Fehler, machte Verbesserungsvorschläge und schuf mit ihrem gradlinigen Wesen eine Atmosphäre des Vertrauens und der Aufrichtigkeit, die es in Ignacios von Misstrauen und Ängsten geprägtem privaten Reich zuvor nie gegeben hatte.

Ignacio, zunächst irritiert und von einer gewissen Unsicherheit und Hilflosigkeit, war schon bald von Isidoras Wesensart völlig gefangen genommen. Äußerlich hatte sich an seinem Refugium nicht allzuviel verändert, Haus und Park strahlten jedoch mit der Zeit nicht mehr die unnahbare Kühle aus, die ihm als Attribut seines Herrscherhauses als so wichtig erschienen war.

Einige Monate waren vergangen; das Wesen Igancios hatte sich - zunächst kaum wahrnehmbar, dann jedoch immer augenfälliger - in einer Weise verändert, die seine Mitmenschen immer mehr in Erstaunen versetzte.

Er wurde zunehmend umgänglicher, sein barscher Befehlston hatte sich nach und nach in verbindliche Freundlichkeit verwandelt. Er delegierte selbst wichtige Aufgaben, an seine Angestellten und übertrug Jose Maria weite Machtbereiche seines Refugiums. So schuf er sich Freiräume, die letztlich der Anlass seiner inneren Wandlung waren - möglichst viel Zeit in der Nähe Isidoras zu verbringen.

Noch war es ihm nicht gelungen, die starke innere Mauer in sich nieder zu reißen, die verhinderte, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Isidora hatte jedoch bemerkt, wie unsäglich stark sich ein eiskalter Panzer im Laufe der Jahrzehnte um sein Herz gelegt hatte, und ihre weite Seele erfasste auch ohne Worte den Schmerz, den Ignacio seit seiner Kindheit in sich trug.

An einem milden Spätsommerabend bei einem gemeinsamen Spaziergang an der steilen Küste Asturiens geschah dann das Unfassbare. Ein riesiger Sonnenball stand knapp über der Scheidelinie zwischen Himmel und Ozean und tauchte die friedlich anrollenden Wellen des Atlantik in ein goldfarbenes weiches Licht.

Die Luft war noch angenehm warm nach einem der letzten heißen Septembertage, und Isidora schlug vor, sich auf dem nächsten schmalen Pfad, der sich die schroff abfallende Küstenlinie hinunterschlängelte, in eine der stillen Buchten zu begeben, um dort gemeinsam zu baden. Ignacio durchfuhr es siedendheiß bei dem Gedanken, sich vor Isidora entkleiden zu müssen, war es ihm doch in all den Jahren seines Erwachsenenlebens gelungen, seinen verunstalteten Körper stets vor den Menschen verborgen zu halten.

 Er suchte nach Entschuldigungen, stammelte, stotterte und wand sich in fadenscheinigen Ausflüchten; aber Isidora ließ nicht locker und umschmeichelte ihn mit bittenden Worten. Da geriet Ignacios Seele in Aufruhr, er begann am ganzen Leibe zu zittern, griff mit einer Hand in den Ausschnitt seines bunten Hemdes und riss sich mit wildem Ruck die schützende Hülle vom Leib.

Es war totenstill, geworden, die Grillen hatten ihr Liebeswerben eingestellt, keine Möwe schrie, kein Vogel sang, selbst das Rauschen des Meeres war in weite Ferne gerückt. Es war, als ob die ganze Welt rings umher atemlos auf seine fürchterlichen Entstellungen starrte. Schwer nach Luft ringend stand Ignacio vor seiner Begleiterin, das zerrissene Hemd in der geballten Faust; sein Körper bebte in tiefster seelischer Not. Verzweifelt suchte er in Isidoras Augen nach einer Regung, voller Angst vor ihrer Reaktion auf das erbärmliche Bild, dass er ihr darbot.

Einen unendlichen Augenblick lang geschah nichts. Isidora blickte starr auf seinen aufgeblasenen zerklüfteten Körper, die Augen weit aufgerissen und erstarrt wie Lots Weib beim Anblick des biblischen Schwefelfeuers.

Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper, ihr Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse, sie wich einen Schritt zurück, stürzte sodann mit einem Aufschrei an Ignacio vorbei, rannte - sich ständig voller Furcht umschauend - den Weg zurück in Richtung des kleine Fischerhafens, von dem aus ihr gemeinsamer Weg begonnen hatte, stolperte, fiel hin, lief weiter, immer weiter, weg vor diesem grauenhaften Anblick, die Haare wirr, mit irrsinnigem Blick und einem vor Angst entstellten Gesicht.

 Die Sonne war dampfend zur Hälfte ins Meer eingesunken, erste Nebelschwaden legten sich über das Wasser, stiegen langsam höher die schroffen Klippen hinauf, verschleierten die Schönheit der nordspanischen Küstenlandschaft, stiegen immer weiter über die Bäume, die Berge, vereinigten sich mit den heraufziehenden Wolken und verschluckten auch Ignacio, der - verwoben nun und eins mit der Natur langsam über die schroff abfallende Wand in den ewig rauschenden Ozean schritt.

copyright by Jürgen Spalink

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